Kunst

Arbeit und Performance

In den 1970er Jahren war die Einkommens- und Vermögensverteilung in westlichen Industrieländern so gerecht wie selten zuvor. Hohe Spitzensteuersätze, die in den USA zeitweise über 90 Prozent und in Deutschland über 50 Prozent lagen, starke Gewerkschaften und ein ausgebauter Sozialstaat sorgten dafür, dass wirtschaftlicher Fortschritt breite Teile der Gesellschaft erreichte. Produktivitätszuwächse führten zu realen Lohnerhöhungen, während öffentliche Bildung, Gesundheitsversorgung und soziale Sicherungssysteme Aufstiegsmöglichkeiten schufen. Der sogenannte American Dream. Das Versprechen, dass harte Arbeit, unabhängig von Herkunft und Klasse, zu Wohlstand führen kann. Hatte in dieser Zeit eine gewisse Gültigkeit. Viele Arbeiterfamilien konnten sich Eigenheime leisten, ihren Kindern eine gute Ausbildung ermöglichen und auf einen gesicherten Ruhestand hoffen.

Ein entscheidender Bruch in diesem System erfolgte 1971, als US-Präsident Richard Nixon die Goldbindung des Dollars aufhob. Bis dahin war der Wert des US-Dollars über das Bretton-Woods-System direkt an Gold gekoppelt, ein Mechanismus, der nach dem Zweiten Weltkrieg für Stabilität sorgte. Doch steigende Staatsausgaben, insbesondere durch den Vietnamkrieg und innenpolitische Sozialprogramme, führten dazu, dass die USA mehr Dollar druckten, als sie mit ihren Goldreserven decken konnten. Das Ende der festen Wechselkurse setzte eine Spirale spekulativer Währungsschwankungen und wachsender Inflation in Gang. Die westlichen Volkswirtschaften gerieten in eine Krise, die durch die Ölkrisen der 1970er Jahre noch verschärft wurde.

Dieses wirtschaftliche Chaos lieferte den perfekten Nährboden für den Aufstieg des Neoliberalismus. In den 1980er Jahren setzten Politiker wie Margaret Thatcher in Grossbritannien und Ronald Reagan in den USA auf eine radikale Marktlogik: Deregulierung, Steuersenkungen für Reiche, Privatisierungen und die Schwächung von Gewerkschaften. Ihr zentrales Argument lautete, dass sich der Markt selbst regulieren müsse, um Wachstum zu fördern, was eine Abkehr von den sozialstaatlichen Prinzipien der Nachkriegszeit bedeutete. Unternehmen wurden ermutigt, Gewinne nicht mehr primär durch Investitionen in Arbeitsplätze oder Lohnerhöhungen zu steigern, sondern durch Finanzspekulationen, Aktienrückkäufe und Steuervermeidung.

Damit wandelte sich auch der American Dream. Während er in den 1950er bis 1970er Jahren noch mit harter Arbeit, sicherem Wohlstand und sozialem Aufstieg verbunden war, setzte sich in den 1980er Jahren eine neue Logik durch: Erfolg wurde zur individuellen Leistung und zum geschickten Selbstmarketing. Wer scheiterte, hatte sich nicht genug angestrengt oder die falschen Chancen genutzt; dabei wurden wachsende Ungleichheit und stagnierende Löhne ausgeblendet.

Diese Entwicklung führte zur heutigen Gig Economy. Ich AG, Ich Gewerkschaft, Ich Chef. Dieser Wandel ist längst global. China liefert als Produktionszentrum des digitalen Kapitalismus die physische Infrastruktur. So entsteht eine transnationale Abhängigkeit. Unsichere Gig-Jobs im Westen stehen niedrigen Löhnen und strikter Kontrolle in China gegenüber, beides sichert die Profitabilität des digitalen Kapitalismus.

Das alte Versprechen des American Dream verblasst und wirkt zunehmend wie eine Farce, die keine Propaganda mehr aufrechterhalten kann. Doch an seine Stelle tritt ein neues Versprechen. Inszeniere dich richtig, dann kannst du es schaffen. Der Performing Dream hat den American Dream ersetzt, ein neuer Traum, in dem Selbstinszenierung zur Währung des Erfolgs wird.

John Dewey sagte: "Der größte Trieb des Menschen ist sein Bedürfnis nach Anerkennung." Dieses Zitat wurde in Dale Carnegies Buch How to Win Friends and Influence People populär, einem Pionierwerk des Self-Improvement-Genres aus den 1930er Jahren. Social Media haben dieses Bedürfnis nach Anerkennung perfektioniert; wer sichtbar ist, kann aufsteigen. Was wie eine Leiter aussah, die nach oben führt, entpuppt sich aus der Distanz als ein digitales Hamsterrad.

Um zu verstehen, wie Social Media so erfolgreich werden konnten, müssen wir zurückblicken: Die frühen 2000er markierten mit Big Brother eine entscheidende Bruchstelle. Das Private wurde endgültig öffentlich. Reality-TV-Formate wie Big Brother etablierten ein neues Verständnis von Sichtbarkeit und Authentizität, dadurch konnten soziale Medien das ständige Performen zur Normalität erklärten. Dies war der eigentliche Beginn der totalen Performance-Gesellschaft. Oder in den Worten des Regisseurs Boris Nikitin: die freiwillige Selbstüberwachung, der daraus resultierende Kurzschluss zwischen Sichtbarkeit und Anerkennung, das Casting-Prinzip, das Ich als Ware. Vor allem aber die Ununterscheidbarkeit zwischen öffentlichem und privatem Selbst. Wo früher die eigene Wohnung eine physische Grenze bildete, existiert nun kein Rückzugsort mehr: Nun ist alles Bühne, es gibt keine Pause mehr von der eigenen Rolle, vom eigenen Selbst. Die Repräsentation wird zur Dauersorge. Damals haben wir über diesen Container gelacht, heute sitzen wir alle drin.

Wir inszenieren und konsumieren Bilder und Rollen, die Erfolg versprechen. Dabei leisten wir unbezahlte Arbeit. Jedes Mal, wenn wir unsere digitalen Endgeräte zücken, füttern wir digitale Grosskonzerne. Karl Jaspers fragte bereits in den 1960er Jahren, als Gewerkschaften immer mehr Freizeit für die Arbeiter erkämpften: "Wird der Mensch diese Zeit zum Meditieren nutzen, oder ist die Freizeit zu einer neuen Methode geworden, sich verzehren zu lassen, diesmal nicht von der Arbeit, sondern von einer organisierten Vergnügungstätigkeit, einer anderen Form von Arbeit?" Freizeit als neue Form der Arbeit: Wir inszenieren uns permanent und liefern kostenlosen Content für Plattformen, die daran verdienen. Jeder Klick, jedes Bild, jeder Moment wird verwertet.

Der American Dream versprach einst Aufstieg durch harte Arbeit. Der Performing Dream ersetzt ihn mit der Illusion, dass Sichtbarkeit Erfolg bedeutet. Doch wer nicht performt, verschwindet. Was bleibt, ist eine Welt ohne Pausen.

 

Kerim El-Mokdad

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